In einem Telefongespräch mit einer Freundin vor ein paar Wochen, in dem wir über meine Gesundheit sprachen, erklärte ich ihr, dass meine chronische Krankheit zu einem Teil meines täglichen Lebens und meiner Routine geworden sei und dass sie gar nicht mehr viel “Pflege” benötige. In der Tat habe ich gelernt, mit den Höhen und Tiefen zurechtzukommen, mit den Tagen mit weniger Symptomen und vor allem mit denen mit mehr Symptomen.
Über den Anfang hinaus
Rückblickend kann man wohl mit Sicherheit sagen, dass die ersten Jahre die schwierigsten waren. Am Anfang treten die Symptome auf und dann werden sie noch schlimmer. Jedes neue Symptom ist eine Überraschung und auch ein Schock: langsames Gehen, leise Stimme, unkooperative Finger, Nackenschmerzen.
Selbst nach der Erleichterung über die Diagnose ist der Anfang noch überwältigend: Man versteht nichts, kann nie etwas vorhersehen, kann sich noch nicht darauf einstellen. Plötzlich muss man sich mit all diesen Medikamenten, Behandlungen und Ärzten auseinandersetzen. Und die sind nicht immer so wirksam, wie man es sich erhofft hat oder wie man es sich vorgestellt hat… Es ist frustrierend, seine Pläne ständig anpassen zu müssen, je nachdem, wie fit man an diesem Tag ist und wie stark die Symptome tatsächlich sind.
Die Macht der Zeit
Dann vergehen die Jahre. Und man lernt.
Man lernt über die Krankheit, was sie erfordert, aber auch, was sie zulässt.
Man lernt, wie man Behandlungen und Medikamente organisiert und ein System entwickelt, damit man seine Medikamente nicht tagsüber vergisst.
Man lernt auch, anderen zu erklären, was die Krankheit bedeutet und wie sie sich auf das tägliche Leben auswirkt, da das eigene Verständnis für die Krankheit wächst. Mit der Zeit gewöhnen sich auch die anderen an die Krankheit.
Man lernt, „nein“ zu sagen, um seine Kraft für das zu sparen, was einem wirklich wichtig ist.
Man lernt, dass es zwar schlechte Phasen gibt, aber auch gute.
Man lernt, was sich gut anfühlt und was nicht, oder besser gesagt, was nicht zur Krankheit passt. Man lernt, wie man seine Energieniveau bestmöglich steuern kann und wie viel jede Aktivität kostet.
Man lernt, nicht in Panik zu verfallen, wenn es einem plötzlich wieder schlechter geht, und man weiß, dass es nur eine Frage von Tagen oder Wochen (hoffentlich nicht Monaten) ist, bis alles wieder normal ist. Zumindest zu der Normalität, an die man jetzt gewöhnt ist. Und das ist jetzt die Norm. Was auch immer das ist.
Man lernt, geduldig zu sein und nicht aufzugeben. Auch wenn man sich nicht gut fühlt.
Man lernt, das Beste aus dem zu machen, was noch möglich ist, denn schließlich kann man es auch anders machen. Man lernt auch, besser zu verstehen, was man braucht, um ein Leben zu führen, das dem nahe kommt, das man sich erhofft hat, das man gehabt hätte, wenn man nicht krank gewesen wäre.
Und schließlich lernt man, mit der Krankheit in Frieden zu leben.
Die Krankheit als Begleiterin
Mit der Zeit wird die chronische Krankheit zum Vertrauten, wenn nicht zur Freundin, so doch zumindest zur Begleiterin, dessen Variationen und Facetten man kennt.
Und manchmal vergisst man sogar, dass man diese Krankheit hat, weil sie für uns ganz normal geworden ist. Ich vergesse gelegentlich, den Leuten zu sagen, dass ich im Rollstuhl sitze. Das ist mehr oder weniger problematisch: Beim letzten Mal habe ich es geschafft, die Treppe hinaufzusteigen und alle in Verlegenheit zu bringen… Aber nichts Unüberwindbares.
Die chronische Krankheit ist jetzt Teil des Alltags, und ihre Behandlung ist Teil der täglichen Aktivitäten.
Überraschungen sind selten. Sie kommen noch gelegentlich vor, sonst wäre es ja langweilig. Aber mit der Zeit werden Muster erkannt, und das Wiederauftreten eines Symptoms mag zwar unerwartet sein, aber es ist selten eine völlige Überraschung.
Frieden mit der Krankheit zu schließen bedeutet nicht, sich mit ihr abzufinden, sondern zu lernen, mit ihr zu leben, mit den schwierigen und den leichteren Zeiten umzugehen und das Leben anders zu genießen, als man es vielleicht vorher getan hat, weil man gelernt hat, wie schnell sich eine Situation ändern kann.
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